"Wer unter dem Kreuze Jesu lebt, wer im Kreuze Jesu die tiefste Gottlosigkeit aller Menschen und des eignen Herzens erkannt hat, dem ist keine Sünde mehr fremd; wer vor der Furchtbarkeit der eignen Sünde, die Jesus ans Kreuz schlug, einmal erschrocken ist, der erschrickt auch vor der schwersten Sünde des Bruders nicht mehr.
Er kennt das menschliche Herz aus dem Kreuz Jesu. Er weiß, wie es gänzlich verloren ist in Sünde und Schwachheit, wie es sich verirrt auf den Wegen der Sünde, und er weiß auch, wie es angenommen ist in Gnade und Barmherzigkeit. Allein der Bruder unter dem Kreuz kann meine Beichte hören. Nicht Lebenserfahrung, sondern Kreuzeserfahrung macht den Beichthörer.
Der erfahrenste Menschenkenner weiß unendlich viel weniger vom menschlichen Herzen als der schlichteste Christ, der unter dem Kreuz Jesu lebt. Die größte psychologische Einsicht, Begabung, Erfahrung vermag ja das eine nicht zu begreifen: was Sünde ist. Sie weiß von Not, von Schwachheit und Versagen, aber sie kennt die Gottlosigkeit des Menschen nicht. Darum weiß sie auch nicht, daß der Mensch allein an seiner Sünde zugrunde geht und allein durch Vergebung heil werden kann. Das weiß nur der Christ.
Vor dem Psychologen darf ich nur krank sein, vor dem christlichen Bruder darf ich Sünder sein. Der Psycholog muß mein Herz erst erforschen und findet doch nie den tiefsten Grund, der christliche Bruder weiß: da kommt ein Sünder wie ich, ein Gottloser, der beichten will und Gottes Vergebung begehrt. Der Psycholog sieht mich an, als wäre kein Gott, der Bruder sieht mich vor dem richtenden und barmherzigen Gott im Kreuz Jesu Christi.
Es ist nicht Mangel an psychologischen Kenntnissen, sondern Mangel an Liebe zu dem gekreuzigten Jesus Christus, wenn wir so armselig und untauglich sind für die brüderliche Beichte."
Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, s. 103.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen